Es war eine pragmatische Entscheidung, die den Fischerort Ende des 14. Jahrhunderts begründete. Die Häuptlingsfamilie der Cirksena beschloss damals, ihren Stammsitz von Appingen an die Küste zu verlegen und ließ Kirche, Hafen und das erste Siel an einem deichgeschützten Priel am Südufer der Leybucht erbauen. Weil der neu geschaffene Familiensitz „in der Greet“, also den jüngeren ein- gedeichten Marschgebieten lag, war auch der Name des kleinen Sielortes, den Ocko tom Brock 1388 erstmals urkundlich machte, bald gefunden.
Viele große und kleine Namen hat Greetsiel seit dieser Zeit gesehen. Über dem Haupteingang der evangelisch-reformierten Kirche (ehemals Marienkirche) etwa prangen seit 1559 sowohl das Cirksenasche als auch das königlich-schwedische Wappen, da Edzard II. Cirksena (1532–1599) die Stockholmer Königstochter Katharina Wasa (1539–1610) heiratete. Der große Gelehrte Ubbo Emmius (1547–1625) erblickte hier das Licht der Welt und wurde späterhin Gründungsrektor der Universität Groningen. Internationale Beziehungen und Wohlstand bezeugen auch die ab dem 17. Jahrhundert in Sielnähe entstandenen Gebäude stolzer Bürgerfamilien.
Wie die bekannten Zwillingsmühlen am Ortseingang auf die frühere Bedeutung der Landwirtschaft verweisen, belegen die prachtvollen, teils niederländisch anmutenden Fassaden zugleich die früher weit größere Bedeutung der Fischerei. Ende des 19. Jahrhunderts verfielen schließlich Maler wie Julian Klein von Diepold, Poppe Folkerts oder Alf Depser dem ästhetischen Reiz der heutigen Touristenhochburg der Krummhörn und machten Greetsiel zu einem Künstlerort. Spätestens seit dieser Zeit gilt das Fischerdorf manchem Zeitgenossen als prototypisch für die gesamte ostfriesische Halbinsel.
Der Moormerländer Maler und Graphiker Herbert Buß hat auf der Folie dieser Traditionen im Frühjahr 2014 eine ganz eigene Spurensuche durch den Ort unternommen und diese bildgewordene Begegnung anlässlich seiner Teilnahme an der 44. „Greetsieler Kunst-Woche“ in einer fünfteiligen Radiermappe konserviert. Schon die unterschiedlichen Perspektiven und Anschnitte, die Buß auf seine Motive verwendet, sind dabei bemerkenswert. Die obere Hälfte des wuchtig-niedrigen Glockenturmes und ein Dachvorsprung sind alles, was er von der „Evangelisch-reformierten Kirche“ zu sehen gibt. „Die Zwillingsmühlen“ scheinen bei ihm dagegen in die Ferne und in die Auseinandersetzung mit dem flüchtigen Element des Windes entrückt. Die Krabbenkutter wiederum rücken dicht gedrängt „Am Greetsieler Hafen“ vor den bekannten Fassaden der Sielstraße in das Hochformat.
Klar und herausgehoben wirkt demgegenüber „Das von Halemsche Haus“ als ein Paradebeispiel der klassizistischen Baukunst. Während alle genannten Motive von Platten im Format 20x15cm gedruckt wurden, weist die Radierung des früheren Greetsieler Kutters „GRE 3 – Horizont“ nicht nur eine Bildgröße von 24x18cm auf, gegenüber den in Sepia- und Erdtönen strenger gehaltenen Architekturmotiven erscheint das Schiff zusätzlich koloriert und damit wirklichkeitsnäher. Dass der Künstler seine Platten wieder und wieder bearbeitet und der Ätzflüssigkeit ausgesetzt hat, verleiht den Blättern einen für Radierungen eher unüblichen malerischen Ausdruck. Jede Kaltnadelradierung, jeder Druck in der Edition Greetsiel ist ein Unikat. Die Spurensuche von Herbert Buß jedoch erreicht hierdurch existentielle Tiefe und gewinnt zugleich an gestischem Impetus. Ätherisch und von einer stillen Poesie umfangen, scheinen die vertrauten Motive in ein neues, in ein zeitloseres Licht getaucht. Wie Siegfried Lenz in „So zärtlich war Suleyken“ (1955) das unergründliche Blaugrün der masurischen Seele umkreiste, umschreibt Herbert Buß hier ein „zärtliches Küsten-Dörfchen“
Dr. Lübbert R. Haneborger |