Am 7. Juni 1744 begann für die heutige Kreisstadt Aurich eine Zeitenwende. Mit dem Aussterben der Fürstenfamilie Cirksena wurde die bedeutende Stadt im Zentrum der ostfriesischen Halbinsel ohne Widerstand von 500 preußischen Soldaten und Beamten besetzt. Hiernach blieb Aurich Sitz der Landesbehörden, erhielt eine Kriegs- und Domänenkammer und wurde Regierungshauptstadt der preußischen Provinz Ostfriesland.
Keine andere Stadt auf der ostfriesischen Halbinsel war über Jahrhunderte mehr von Beamtentum und Verwaltungsgeschäften geprägt. In der napoleonischen Epoche war sie Sitz des obersten französischen Beamten, des Präfekten. Nach dem Wiener Kongress wurde die Stadt mit Ostfriesland dem Königreich Hannover zugeschlagen, fiel nach dem Deutschen Krieg 1866 jedoch abermals an Preußen. Ihren Status als Verwaltungszentrum Ostfrieslands konnte Aurich unter den verschiedenen Herrschaften erhalten. Wirtschaftlich blieb die Stadt von ihrer Stellung als bedeutender Viehhandelsplatz geprägt, die sie seit dem 14. Jahrhundert weiter ausbauen konnte. Wichtig war hierfür auch der alte Hafen, dessen Beckenform heute von einem Artefakt nachgebildet wird.
Erst nach dem Zweiten Weltkrieg hielt die Industrialisierung in Aurich nach und nach Einzug und bewirkte den Wandel weg von der reinen Beamtenstadt. Gleichwohl sind in der zweitgrößten ostfriesischen Stadt mit ihren knapp 42000 Einwohnern bis heute zahlreiche Behörden, darunter auch Bundes- und Landesbehörden sowie die Ostfriesische Landschaft – als Kulturparlament der Ostfriesen – angesiedelt. Daneben gelang durch die Ansiedlung und den Aufstieg des internationalen Windenergieanlagenherstellers Enercon seit den 1990er Jahren eine Neuausrichtung, die modernste Technologie und ökologische Nachhaltigkeit ökonomisch wirksam machte.
Diese Zeitläufte mögen auch den Moormerländer Maler und Grafiker Herbert Buß umgetrieben haben, als er sich im Frühjahr 2018 Aurich als Thema einer fünfteiligen Radiermappe vornahm. Bereits zum sechsten Mal hat er sich im Rahmen einer Ausstellungsvorbereitung auf Spurensuche rund um seinen zukünftigen Ausstellungsort begeben. Nach Juist, Greetsiel, Emden, Ditzum und Uplengen setzt der Künstler seine symbolische und inzwischen zu einer schöner Tradition gewordene Reise über die Halbinsel zwischen Ems und Jade mit einer Zwischenstation in Ostfrieslands heimlicher Hauptstadt fort.
Erneut hat sich Herbert Buß auf nur fünf Motive konzentriert. „Dabei war mir daran gelegen, alte und neuere Stadtgeschichte durch markante Bauwerke gegenüberszustellen“, erzählt der Grafiker. So ist das Energie-, Bildungs- und Erlebnis-Zentrum, kurz EEZ, das die Energiewende mit dem Schwerpunkt Windkrafttechnologie in der Gegenwart museal interpretiert, für Buß zu allererst ein Symbol für die Weiterentwicklung und den Perspektivwechsel der Stadt. Die Windmüller von dazumal finden sich demgegenüber im Galerieholländer der bekannten Stiftsmühle widergespiegelt.
Künstlerisch beeindruckt, wie Buß über nur fünf Motive hinweg eine ganze Fülle unterschiedlichster stilistischer, perspektivischer, kompositorischer und technischer Mittel in seinen (zeit-)entrückten Aquatinten ins Werk setzt und hierdurch das Dargestellte paraphrasiert. Dieses Moment wird umso deutlicher, als er jede Grafikmappe für sich in einem monochromen Farbton entwirft. Feinste Modulationen und wiederholte Ätzungen lassen nicht nur die Charakteristik der abgebildeten Bauwerke erkennen, sondern zeigen sie zugleich eingebunden in ein atmosphärisches Weltganzes.
Markant, aber ebenso kräftig wie das Blattwerk eines großen Baumes neben ihr, hat Herbert Buß den Turm der ev.luth. Lambertikirche als eines der Wahrzeichen der Stadt kristallin herausgestellt. In einer bis ins Unendliche reichenden Verschachtelung erscheinen dagegen die Stadt- und Kreisverwaltung in nur einem Blatt mit dem Bürgermeister-Hippen-Platz und dem bildteilenden, und immer wieder neu zu nährenden Bäumchen Demokratie im Vordergrund. Wiederum durch eine Bildschräge in zwei Hälften aus dunkler Bau(m)-Materie und Himmelsfläche geteilt, ragt die Stiftsmühle – als zweithöchste Mühle Ostfrieslands – mächtig in den Bildraum.
Kunstvoll erscheint im Hintergrund des Pingelhuses auch eine Fassade des Landschaftsgebäudes. Das 1800 von Baumeister Conrad Bernhard Meyer erbaute, zunächst zweigeschossige Pingelhus diente der Treckfahrtsgesellschaft als Hafenwärter- und Speditionsgebäude, als der Hafen noch dort lag, wo sich heute der Georgs- wall befindet. Die Pingel, also die Glocke in seinem kleinen Türmchen, kündete von der Abfahrt der Schuiten genannten Binnenschiffe in Richtung Emden. Einen türmchenartigen Anbau zeigt auch das EEZ unter einem mächtigen,atmosphärischen Himmel und steuert wie ein Schiff der Zukunft entgegen.
Dr. Lübbert R. Haneborger |